Boeing 777-9 - Der neue Riese zeigt seine Klappflügel (2024)

Die neue Boeing 777-9 ist bald das grösste produzierte Verkehrsflugzeug. Nach vielen Rückschlägen zeigt sich der Prototyp jetzt dem staunenden Publikum.

Andreas Spaeth

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Eigentlich macht Boeing solche Kunststücke auf Flugschauen nicht, scheinbar gewagte Manöver mit Verkehrsflugzeugen für den Showeffekt hat sich der Hersteller aus Seattle vor Publikum lange verkniffen. Hatte er auch gar nicht nötig, Aufträge in Milliardenhöhe kamen quasi automatisch. Jetzt ist das anders. An der Dubai Air Show, die jetzt als erste seit der Pandemie vor Ort im alten Glanz stattfand, setzte Boeing voll auf die Faszination, ein riesiges Flugzeug scheinbar in Grenzbereichen am Himmel zum Hingucker zu machen.

Erst ein fast schon extremer Steigflug nach dem Start, nach ein paar Runden vor staunenden Air-Show-Besuchern dann der Höhepunkt: ein leichtes Hochziehen, Schwenk weg vom Publikum und den blauen Bauch mit der Aufschrift 777X vorgezeigt (so heisst das Flugzeugprogramm, X steht dabei für Experiment, also vor der Zulassung) – bis die Maschine quasi auf der linken Tragfläche stand, nur um dann scheinbar seitlich über Kopf wegzukippen, eine angedeutete, aber in diesem Fall nicht ausgeführte Rolle. «Barrel roll» (Fassrolle) heisst ein solches Manöver – und Boeing wurde schon einmal berühmt damit.

Das war 1955, als der legendäre, stets in Cowboystiefeln fliegende Testpilot Tex Johnston den Prototyp der Boeing 707 bei einer Grossveranstaltung in Seattle kopfüber fliegend den Massen vorführte. Eine Standpauke seiner Chefs nach der Landung grinste er weg, der PR-Effekt war so immens, dass noch heute viele in der Stadt davon wissen.

Auch Heather Ross, stellvertretende Chef-Testpilotin des Boeing 777X-Programms. Sie hat die 777-9 von Seattle in rund 14 Stunden nonstop zur Air-Show an den Persischen Golf gebracht. Sie lacht, auf den Vergleich mit Tex Johnston angesprochen: «Ja, das waren noch Zeiten. Wir machen nicht einmal einen Hauch davon, aber zugegeben, wir machen es so, dass es ein bisschen so aussieht, es geht uns hier wirklich um den Showeffekt.»

Es ist offensichtlich, wie viel Spass es ihr macht, ihr neues Paradepferd hier so aufreizend durch den stets tiefblauen Himmel zu steuern. Und es sei höchste Zeit, findet sie, dass die Leute wieder einmal positiv über Boeing staunten, nach so viel schlechten Nachrichten. Die Dubai Air Show war der erste öffentliche Auftritt der Boeing 777-9 ausserhalb der USA, kein Zufall, ist Emirates mit 115 Bestellungen doch künftig der grösste Betreiber.

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Auf dem Rückweg folgten kurze Stopps auf den Basen anderer wichtiger Kunden – in Doha bei Qatar Airways und in Frankfurt bei der Lufthansa. Eine von diesen drei Airlines soll nach jahrelangen Verzögerungen nach heutigem Beteuern von Boeing Ende 2023 der erste Betreiber der 777-9 im Liniendienst werden. Geplant war das eigentlich schon Mitte 2020. Doch dann kam eine Krise und Panne nach der anderen, bei Boeing, bei der 777X – und dann noch die Pandemie obendrein, die neue Langstreckenjets gerade eher zu Ladenhütern macht.

Die Boeing 777-9 bleibt ein Flugzeug der Superlative. Sie wird nach dem Ende der Produktion des Airbus A380 und dem bevorstehenden Aus der Boeing-747-Fertigung künftig das grösste Verkehrsflugzeug sein. Sie ist der grösste je gebaute Zweistrahler und um wenige Zentimeter auch das längste Verkehrsflugzeug aller Zeiten – mit 76,73 Metern Länge überragt sie die Boeing 747-8 um gerade einmal 43 Zentimeter. Die 777-9 (und die kleinere Variante 777-8) basieren in ihrer Technologie in vielem auf der kleineren 787, dem Dreamliner – der wiederum wegen massiver Qualitätsprobleme derzeit überhaupt nicht ausgeliefert wird.

Die Dimensionen und Bauteile des Rumpfes sind in vielen Fällen jene der bisherigen Boeing 777, von denen die Swiss die derzeit grösste Version, 777-300ER, betreibt. Tragflächen und Systeme wurden von der 787 adaptiert. Ergebnis ist ein Flugzeug, das 349 bis 426 Passagiere aufnimmt, ähnlich viele oder etwas mehr als die Boeing 747-8, und diese bis zu 13500 Kilometer weit befördern kann. Und das sehr effizient dank den grössten je gebauten Strahltriebwerken – den zwei GE9X-Turbofans. Deren Durchmesser allein entspricht etwa dem Rumpfdurchmesser einer Boeing 737.

Ein Alleinstellungsmerkmal hat die 777-9: Sie ist das erste Passagierflugzeug mit hochklappbaren Flügelspitzen. An beiden Tragflächen-Enden werden nach der Landung jeweils 3,50 Meter lange Spitzen automatisch hochgeklappt, nachdem sich die Landegeschwindigkeit auf 50 Knoten (92 km/h) reduziert hat.

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Der Grund ist einfach: Mit ihrer vollen Spannweite von 71,80 Metern fiele die 777-9 unter die Kategorie der grössten Flugzeuge, des sogenannten Code F – wie die 747 und die A380. Für die allerdings gibt es auf vielen Flughäfen kaum mehr Abstellplätze, und bei engen Rollwegen könnten sich zwei Flugzeuge dieser Grössenordnung nicht aneinander vorbeibewegen.

Also verwandelt man die 777-9 am Boden durch diesen Mechanismus kurzerhand in die kleinere Kategorie Code E mit einer Spannweite von «nur» noch 64,80 Metern. Vor dem Beginn des Startlaufs betätigen die Piloten oben an der Mittelkonsole im co*ckpit einen mit «Wingtips» beschrifteten Drehschalter und bewegen ihn von Fold auf Extend – und schon klappen die Spitzen innerhalb von 20 Sekunden langsam hydraulisch herunter. Danach rasten Befestigungsbolzen ein, die physisch ein unbeabsichtigtes Hochklappen im Flug verhindern. Zudem wird die Elektrik in diesem Bereich unterbrochen, so dass dafür auch kein Strom zur Verfügung stände.

Passagiere in der 777-9 können diesen ungewöhnlichen Vorgang des Flügelspitzenklappens künftig durchs Flugzeugfenster beobachten oder durch das Live-Bild der Heckkamera auf ihrem Bildschirm am Platz. Skeptiker, die es immer noch gibt, beruhigt Heather Ross: «Hochklappbare Flügelspitzen, etwa bei Militärflugzeugen auf Flugzeugträgern, sind seit dem Zweiten Weltkrieg etwas völlig Normales, nur bis jetzt eben nicht bei Passagierflugzeugen.»

Im Erprobungsprogramm der 777-9 gibt es noch allerlei Baustellen, etwa bei den Flugführungssystemen, aber die Flügelspitzen gehören nicht dazu. 2013 wurde das 777X-Programm an der Dubai Air Show gestartet, nach 18 Monaten Programmanalyse und 11 Monaten Bodentests erfolgte im Januar 2020 endlich der Erstflug des Prototyps, der jetzt in Dubai war.

Derzeit fliegen vier Testflugzeuge und haben bereits über 1700 Flugstunden auf 600 Flügen absolviert – bis zur Verkehrszulassung, für welche die Tests noch gar nicht begonnen haben, wird sich das mindestens verdoppeln. Heather Ross ist nicht die Einzige, die es kaum erwarten kann, bis Passagiere das erste Flugzeug mit Klappflügeln besteigen dürfen.

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